Nichts wie hin: Aktuelle Ausstellungen im Blick

Hier möchte ich (bald gemeinsam mit Kolleg:innen?) das Vergnügen teilen, Kunst und anderes Visuelles in Ausstellungen wahrzunehmen: als Einladung zum „sehenden Sehen“ (M. Imdahl), zum kommunikativen Austausch und zur reflektierten Auseinandersetzung. Idealerweise sollen Sie in nur 3-5 Sätzen erfahren, ob und warum sich auch für Sie ein Weg in diese Ausstellung lohnen könnte…

Die Fotos (wenn nicht anders gekennzeichnet) wurden selbst in der jeweiligen Ausstellung aufgenommen.

Darmstadt, Kunsthalle: Eingebrannt. Malerei, Lyrik und Neue Musik aus der DDR (bis 29. Juni 2025)

Dass Individualität und Eigensinn für die künstlerische Existenz gerade auch in der DDR bestimmend waren, verdeutlicht diese eindrückliche und verdienstvolle Ausstellung, die eine Künstler:innen-Auswahl jenseits des festgefahrenen Kanons der „DDR-Kunst“ („Leipziger Schule“ usw.) findet. Das Zusammenspiel von Gemälden, Gedichten und Audiostationen deutet an, dass nicht in Gattungsgrenzen, sondern in Wirkungen für das Subjekt gedacht wurde. Dabei war Freiheit keine Handelsware [vgl. unten zur „Para-Moderne“ in Bonn], sondern musste gegen das System ertrotzt werden – das Gemeinschaftliche dieses ständigen Ringens lässt sich jeden Donnerstagabend im Begleitprogramm mit Zeitzeugen in der Kunsthalle Darmstadt am besten nachvollziehen!

Fünf Personen sitzen im Ausstellungsraum an einem Tisch und sprechen vor Publikum miteinander

Bonn, Bundeskunsthalle: Para-Moderne. Lebensreformen ab 1900 (bis 10. August 2025)

Ein auf die Behauptung höherer Einsichten gestützter Hyper-Individualismus erweist sich in dieser materialreichen Zusammenschau als um 1900 auftretende Massenerscheinung, in der Freiheit letztlich zum Produkt wird: Die „ästhetische Praxis einer bürgerlichen Fluchtbewegung“ (Janos Frecot, bezogen auf die Flucht vor dem zeitgenössischen Rationalismus) wird in der Bonner Ausstellung eindrucksvoll bis zu den kalifornischen Hippies fortgeschrieben – die Spannung zwischen Affirmation und Kritik solcher Phänomene bleibt dabei wohl absichtsvoll unaufgelöst. Die Saaltexte begründen die beziehungsreiche Werkauswahl instruktiv, aber oft möchte man genaueres über die spannenden Objekte und Kontexte erfahren. Auch der Katalog (42 €) leistet dies leider nicht. Also vor dem Besuch etwas anderes lesen, etwa das kluge Buch (1972/1997) von Frecot/Geist/Kerbs über Fidus (1868-1948), der mit seinen auch in der Bonner Ausstellung zentralen Bildprägungen den Kult um das Aussteigertum befeuerte. 

Übrigens: Auch eher für Informierte ergiebig ist die Ausstellung „Susan Sontag – Sehen und gesehen werden“, bis 28. September 2025 ebenfalls in der Bundeskunsthalle.

Eine Vitrine zeigt zahlreiche Autogrammfotos des „Aussteigers“ Gustav Nagel vom Anfang des 20. Jahrhunderts

Paris, Jeu de Paume: Le monde selon AI (bis 21. September 2025)

Diese Ausstellung über „die Welt durch KI“ gibt zu denken: Von dem Medientheoretiker Antonio Somaini vor dem Hintergrund einer Unterscheidung von „analytischer“ und „generativer“ KI konzipiert, erfährt man nicht nur vieles über die mit Künstlicher Intelligenz verbundenen historischen Voraussetzungen, sozialen Abhängigkeiten und ökologischen Folgen, sondern erlebt etwa auch das zweifelhafte Vergnügen, von Trevor Paglen zum Objekt professioneller Kategorisierung anhand äußerer Merkmale gemacht zu werden (vgl. Insta-Post von Henry Keazor, Mitte Mai 2025). Mit der im zweiten Teil von Somaini anhand künstlerischer Auseinandersetzungen mit KI entfalteten These, wonach diese Technologie „latente Räume“ konstituiert, die weder real noch virtuell sind, wird sich eine künftige Theorie von KI(-Kunst) noch auseinandersetzen müssen… Unbedingt genug Zeit für die Ausstellung einplanen – und: ZKM, bitte übernehmen Sie!

Das Filmbild einer Frau im Swimmingpool wird überlagert von fingierten KI-Analysen der Bildinhalte

Paris, Fondation Louis Vuitton: David Hockney 25 (bis 31. August 2025)

Der Malerstar David Hockney ist in dieser großen Retrospektive in voller Breite zu erleben, von frühen gemalten Auseinandersetzungen mit menschlichen Beziehungsfragen über grandiose Landschaften bis zu einer Fülle von Porträts und malerischen Selbst-Spiegelungen. Erkunden lässt sich ebenfalls, wie Hockney seine virtuose Zeichenkunst schon früh elegant in das Medium des „Malens“ mit dem iPad überführt hat. Als verschmitzter Augenschmeichler erweist er sich nicht zuletzt auch in den als immersive chill-out-Area präsentierten Arbeiten für die Opernbühne… Die Ausstellung fordert und erhält Hingabe vom Publikum!

Museumsbesucher sitzen vor einer Wand mit Porträtgemälden von David Hockney

Stuttgart, Staatsgalerie: Stand Up! Feministische Avantgarde. Werke aus der Sammlung Verbund, Wien (bis 22. Juni 2025)

Insbesondere inszenierte Fotografie wirkt hier als Medium weiblicher Selbstermächtigung, von spielerischer Rollensuche bis zu sarkastischem Re-Enactment männlicher Dominanzposen. Wie politisch das Private schon in den 1970ern gesehen werden konnte, zeigen Künstlerinnen wie Renate Eisenegger, Hannah Wilke und Martha Wilson – für mich spannende Entdeckungen neben bekannten Größen wie Cindy Sherman oder der aktuell (endlich) viel gezeigten Annegret Soltau!

Bild: Anna Kutera (geb. 1952 in Zgorzelec/Polen): Feministische Malerei, 1973/2022 [Ausschnitt]